Erkläre einem Laien: Was macht einen guten Sprung aus?

Jeder Sprungrichter hat den perfekten Sprung im Kopf. Der perfekte Sprung ist dynamisch, elegant und von der Kante des Schanzentisches bis zur Sturzlinie in einem Guss.

 

Worauf schaust du als Sprungrichter genau?

Wir haben die drei Phasen Flug, Landung und das Ausfahren. Wir gehen von der Bestnote 20 aus und machen Abzüge anhand einer Abzugsliste. Die Phase Flug dauert vom Absprung bis zu dem Moment, wo der Springer auf den Boden kommt. Die Landung beinhaltet den Telemark und die anschliessenden rund 10 bis 20 Meter und das Ausfahren schliesslich die Fahrt bis zur Sturzlinie, der untersten grünen Linie im Flachen.

 

Du hast die Abzugsliste erwähnt. Was gibt dir diese genau vor?

Diese gibt uns vor, wofür wir Abzüge geben müssen. Der Flug zum Beispiel muss dynamisch und darf nicht zu passiv oder zu aggressiv sein. Als Sprungrichter sehe ich, ob der Springer oder die Springerin zu weit hinter dem Ski ist oder zu aggressiv gegen den Ski drückt. Das sind Nuancen, für die man ein Auge haben muss. Bei der Landung ist natürlich der Telemark wichtig, also dass die Ski nicht parallel stehen. Beim Ausfahren dürfen die Athleten keine Bewegung machen. Wir ziehen jeweils halbe Punkte von der Bestnote 20 ab. Es sind pro Wettkampf fünf Sprungrichter und die höchste und die niedrigste Note werden gestrichen.

 

Musst du deinen Entscheid begründen können?

Nein. Jeder Sprungrichter steht alleine in seiner Kabine, schaut den Sprung an und gibt die Abzüge in ein kleines Eingabegerät ein. Innerhalb von fünf bis sieben Sekunden muss ich die Note bestätigen und abschicken. Diese Note ist gesetzt und man kann sie nicht mehr ändern.

 

Im Fussball ist der VAR in aller Munde. Wäre so etwas nicht auch nützlich für euch, schliesslich ist es sehr schwierig, alles zu sehen?

Seit wenigen Jahren haben wir im Weltcup ein Tablet. Dort läuft die Landung des aktuellen Springers in der Vorderansicht in der Dauerschlaufe. Auf grösseren Schanzen wie Engelberg braucht man es ab und zu, weil man durch die Grösse der Schanze ein bisschen weit von der Landung entfernt ist. Bei Skiflugschanzen, wo sie über 200 Meter weit fliegen, ist das Tablet sehr wichtig. Wenn es Pulverschnee hat und Schnee aufwirbelt, sieht man es noch schlechter. Doch trotz Tablet: Ich habe dadurch nicht mehr Zeit für meine Entscheidung. Das Tablet ist praktisch, um kurz bestätigen zu können, ob ich mit meiner Entscheidung richtig liege oder nicht.

 

Erwartest du von einem Gesamtweltcupleader mehr als von einem Weltcupneuling?

Ich versuche, möglichst nicht auf die Startliste zu schauen. Das ist natürlich nicht immer einfach, weil der Name des Springers neben der Startliste auf dem Eingabegerät ersichtlich ist und vom Speaker angekündigt wird. Im ersten Durchgang weiss ich, dass der letzte Springer der Weltcupleader ist. Im zweiten Durchgang springen sie in umgekehrter Reihenfolge des Klassements des ersten Durchganges. Da kann man nicht vermeiden, dass man weiss, wer kommt. Ich schaue den Sprung an und bewerte, was ich sehe. Ich versuche, jeden Sprung von Startnummer 1 bis 50 unvoreingenommen zu bewerten.

 

Aber Hand aufs Herz, gibst du einem Schweizer nicht lieber mehr Punkte?

Bei nationalen Anlässen wie z.B. den Weltcup Engelberg sehe und höre ich, wann ein Schweizer Athlet an der Reihe ist, das lässt sich nicht vermeiden. Wir Sprungrichter dürfen nicht nationalistisch werden. Ich könnte ja jedem Schweizer konsequent eine 20 geben. Aber das dürfen wir selbstverständlich nicht, da würde ich auf die schwarze Liste der FIS kommen und vom Weltcup ausgeschlossen werden. Wir Sprungrichter werden von der FIS stets überprüft.

 

Die beste und schlechteste Wertung wird jeweils gestrichen. Hadert man da mit sich selbst, wenn man das Streichresultat liefert und deutlich von der Meinung der restlichen Sprungrichter abweicht?

Ich sehe die Noten der anderen nicht und habe keine Ahnung, wie meine Kollegen benotet haben. Erst nach dem Wettkampf sehe ich die Noten auf der Rangliste. Jeder Sprungrichter ist während des Durchgangs für sich alleine, darf das Handy nicht brauchen, nicht sprechenund nicht abschreiben. Ich persönlich bin eher ein strenger Sprungrichter, aber stehe immer zu meiner Note.

 

In jeder Sportart, wo Noten verteilt werden, gibt es immer wieder hitzige Diskussionen. Wie ist das im Skispringen – werdet ihr oft kritisiert?

Ich persönlich wurde noch nie öffentlich kritisiert. Vom FIS-Obmann habe ich selbstverständlich schon interne Kritik erhalten. Diskussionen unter den Sprungrichtern am Abend sind normal, jedoch wird keine Kritik verteilt. Die Schweizer Medien sind in Bezug darauf eher diskret.

 

Du musst jeden Sprung hochkonzentriert anschauen. Wie hältst du die Konzentration hoch?

Ich geniesse jeweils die Atmosphäre, gerade in einem Hexenkessel wie Innsbruck. Zudem geniesse ich die super Aussicht aus dem Sprungrichterturm und baue so Konzentration auf. Der Sprung alleine dauert ja nicht lange, ein Durchgang etwa eine Stunde. Aber klar, es sind lange Tage – gerade wie in Engelberg, wo Damen und Herren am selben Tag springen. Ich habe nie Mühe, die Konzentration zu halten, denn ich fühle mich wohl in dieser Atmosphäre.

 

Gibt es bei der Bewertung einen Unterschied zwischen den Frauen und den Männern?

Es gibt bei den Frauen genau die gleiche Abzugsliste wie bei den Männern. Aber die Damen springen einen anderen Stil als die Herren. Durch die Evolution des Damenskispringens gleicht es sich jedoch immer mehr an. Die Leistungsbreite bei den Damen ist grösser als bei den Herren. Die Erste im Gesamtweltcup hat ein ganz anderes Niveau als die Letzte. Aber das macht es spannend.

 

Wie wird man Sprungrichter oder anders gefragt, was führte dich in den Sprungrichterturm?

Es ist mein Hobby, ich arbeite 90 Prozent und habe Kinder. Ich habe als Neunjähriger auf der einstigen Sprungschanze auf dem Berner Gurten anlässlich des Ferienpasses mit Skispringen angefangen. Bis 18-jährig war ich Skispringer, anschliessend wurde ich Trainer. Ich habe eine Passion fürs Skispringen und mit 30 habe ich die internationale Sprungrichterprüfung absolviert. Seit 13 Jahren bin ich national und im Weltcup tätig. Viele Sprungrichter waren einmal Skispringer oder hatten sonst mit der Sportart zu tun. Alle haben eine Passion für den Sport. Im nationalen Bereich kommen auch Eltern zum Einsatz.

 

Pro Wettkampf sind fünf Sprungrichter im Turm. Wie wird ausgewählt, wer an welchem Springen Sprungrichter macht?

Die FIS entscheidet, an welchem Weltcup welche Nationen als Sprungrichter vertreten sind. Die Obmänner jedes Landes bekommen diese Liste und müssen festlegen, welcher Sprungrichter wohin geht. Ein Sprungrichter des Durchführungslandes ist immer gesetzt. In Engelberg wird also immer ein Schweizer Sprungrichter dabei sein. In der Schweiz sind wir zehn FIS-Sprungrichter. Beim Contintentalcup sind es vier Sprungrichter vom eigenen Land plus ein Ausländer. An den FIS Cups sind es fünf Sprungrichter vom eigenen Land.

 

Wie sieht deine Saison aus, wie bist du unterwegs?

Diese Saison mache ich den Weltcup Engelberg und den FIS Cup in Kandersteg habe ich bereits hinter mir – das war’s dann schon auf internationalem Niveau. Doch dazu kommt selbstverständlich noch die nationale Nachwuchsserie mit vier Stationen.

 

Bildet ihr Sprungrichter euch weiter?

Wir machen regelmässig «Virtual Judging», wo wir zu Hause am Computer Sprünge der aktuellen Saison anschauen und bewerten müssen. Dazu kommen nationale und internationale Weiterbildungsseminare.

 

Falls du lieber Videos schaust: 2018 wurde David Amstein bei seiner Arbeit in Engelberg mit der Kamera begleitet.

Autorin

Andrea Hurschler
Zuständig für die Kommunikation des Viessmann FIS Skisprung Weltcup Engelberg wirkt die Engelbergerin mit grossem Tatendrang im Kern-OK der Eventorganisation mit.